Turmakten

Die Tradition ist bekannt und weitverbreitet: Bei jeder Renovation von Gottes- und zum Teil auch Privathäusern werden Schriftstücke und andere Beilagen in deren Turmkugeln eingelegt. Bezogen auf diese Funktion als Aufbewahrungsbehältnisse spricht man von Turmkugeln auch als Zeitkapseln: Erst nach Ablauf eines bestimmten Zeitintervalls dürfen nächstfolgende Generationen die Turmkugel öffnen und die darin eingelegten zeittypischen Dinge einer kritischen Würdigung unterziehen.

Welche Motivation aber liegt diesem Brauch, der sich im Kanton Luzern bis mindestens ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, zugrunde? Erhoffen sich die Bauherren daraus vor allem Glück und Segen für das in neuem Glanz erstrahlende Bauwerk, oder folgt man schlicht dem Bedürfnis, kommenden Generationen Zeugnisse der eigenen Lebenswelten zu vermitteln oder sich vielleicht gar einen Platz in der Historie zu sichern? Sowohl als auch dürfte die Antwort auf Fragen dieser Art lauten.

Informationsbedürfnis

Zweifelsohne bestand bei den Leuten ein grosses Bedürfnis, künftigen Generationen einen Einblick in zeitgenössische Begebenheiten, Ereignisse und Strukturen zu gewähren. Die in Turmakten wiederholt gebrauchte Verwendung, «ze wüssen se unseren lieben Nachkommen» war also durchaus auch Programm. Was die vermittelten Inhalte anbelangt, zeigt sich eine erstaunliche thematische Einheit, auch wenn die einzelnen Verfasser natürlich unterschiedliche Schwergewichte setzten. So begegnet kaum eine Turmakte, in der nicht eine Baugeschichte und die Renovationschronik des eigenen Gotteshauses oder die Namen und Funktionen der kirchlichen und weltlichen Honoratioren zur Sprache gebracht werden. Oft vermitteln die Schriftstücke auch Alltagsinformationen aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Eher selten dagegen liefern die Schreiber Informationen über merkwürdige und kuriose Ereignisse, die sich in der Pfarrei oder in der weiteren Umgebung zugetragen hatten.

In der Geschichte verankert sein

Besonders beliebt war eine Darstellung des gerade herrschenden Preisniveaus, das sich in hervorragendem Masse für Vergleiche mit Informationen aus früher verfassten Turmakten eignete. Solche Vergleiche ermöglichten eine Wertung der eigenen Zeit und eine Positionierung in der Historie, oftmals verbunden mit der Neigung zu einer laudatio temporis actae, die verschiedentlich auch in eher düster gehaltenen Sittengemälden ihren Niederschlag fand. Darüber hinaus gewährte die Turmakte auch eine gewisse «Geschichtlichkeit» der in ihr genannten Personen: Die Nachwelt wusste um Sein und Wirken mancher Handwerker, Lokalbeamter oder Pfarrsigristen, weil jemand sich die Mühe gemacht hatte, deren Namen in einem für die Ewigkeit gedachten Dokument zu notieren.

Heilsvermittlung

Recht häufig folgt am Schluss der Dokumente ein Segensspruch, in dem die Geschicke des Kirchenbaus und der Pfarrei dem Kirchenpatron, der Dreifaltigkeit und der Gottesmutter empfohlen wird. Auch unter diesem Aspekten konnte der generationenübergreifende Aspekt zum Tragen kommen, nämlich dann, wenn in den Schriftstücken von künftigen Generationen die Abhaltung eines Gebets oder einer Messe für den Aktenverfasser sowie dessen pfarreiliches Umfeld gewünscht wird. Umgekehrt konnte der Segensspruch explizit auch künftige Generationen mit einschliessen. Im Hinblick auf verbesserte Heilsaussichten dürfte dieser Segen ursprünglich einer der Gründe gewesen sein, weshalb die Leute überhaupt erst Dokumente in Turmkugeln einlegten. Ob man dem Bericht indessen einen Segensspruch beifügte, hing stark von der Person des Verfassers sowie dem zeitlichen Umfeld der Verfassung ab. Geistliche Personen als Dokumentenverfasser erbaten für sich und die Pfarrei durchwegs den Segen, während Männer weltlichen Stands diesen schon mal wegliessen. Auffälligerweise liessen gerade mit der Einsetzung des «aufgeklärten» Zeitalters ab der Mitte des 18. Jahrhunderts Segenswünsche nach.

Literatur und Weblinks

Text-Beispiele auf unserer Website:

Weitere Beispiele im Staatsarchiv Luzern:

  • Luzern, Jesuitenkirche, Eckstein und Turmkugel, 1588, Signatur SA 5659
  • Luzern, Turmdokument der Hofkirche Luzern zur Reparatur von 1885, verfasst vom Spengler und Dachdecker Josef Christen, Signatur PA 244/1
  • Luzern, Turmkugeln der Jesuitenkirche, 1891-1957, A 1250/1 - A 1250/17

Transkriptionen / Einleitung: A. Heinzer
Produktion: M. Lischer

 

Nachtrag

Vgl. auch:

  • Aldo Colombi, Die Turmakten von Luzern, 2010 (in der Bibliothek des Staatsarchivs mit der Signatur E.z 425)
  • Beat Kümin, Nachrichten für die Nachwelt. Turmkugelarchive in der Erinnerungskultur des deutschsprachigen Europa. Aus der Zeitschrift Historische Zeitschrift

 

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